Dieser Film zeigt eine beunruhigende Vision „Es war so real in meiner Fantasie!“
In den Achtzigerjahren sind Frank und Marto in Villingen-Schwenningen gemeinsam zur Schule gegangen, einer Kleinstadt am Rande des Schwarzwalds, wo die einst dominierende Uhrenindustrie dem ersten Globalisierungsangriff aus Fernost zum Opfer gefallen war. Nicht zuletzt deshalb sitzt der zeitweilige NPD-Bundesgeschäftsführer Jürgen Schützinger dort seit vier Jahrzehnten im Gemeinderat.
„Arschlochverhalten“
Frank und Marto waren Schulfreunde. Nun hat Marto in einem Youtube-Video Frank die Freundschaft aufgekündigt. Man sieht wackelige Bilder eines heruntergekommenen Gebäudes und hört seine Stimme: „Die Freundschaft ist jetzt wirklich zu Ende. Du bist ein dreckiger Volksverräter. Wo das deutsche Volk so am Boden liegt und wir jeden Tag abgeschlachtet werden… und Deutsche nur die dummen Opfer sind, die sich nicht wehren können. Das ist dreckiges Verhalten. Da kann man nur darauf spucken. Kann man dir nur ins Gesicht spucken.“
Das „Arschlochverhalten“ besteht in einem Film. Frank Geiger ist vor Jahren nach Hamburg gezogen und hat begonnen, Dokumentarfilme zu produzieren, bis jetzt rund 20. Sein neuer heißt „Kleine Germanen“.
Noch niemand hat ihn gesehen, aber es dürfte der deutsche Film sein, gegen den im Netz so massiv gehetzt wird wie gegen keinen zweiten in diesem Jahr. Er handelt von einer Parallelgesellschaft in diesem Lande. Nicht von einer islamischen. Von einer germanischen.
Wovon die Öffentlichkeit bisher praktisch nichts gehört hat. Es gibt keine wissenschaftlichen Untersuchungen, wenige Zeitungsartikel, einige Aussteigerbücher. Auch Geiger hatte nichts davon gehört, bis er von dem Fall eines vierjährigen Mädchens las, das Diabetikerin war, dessen Eltern aber eine Behandlung mit Insulin verweigerten, weil dies in der germanischen Medizin nicht vorgesehen sei. Das Mädchen starb, die Eltern wurden dafür verurteilt.
Es gibt keine Statistiken über „völkische Erziehung“, auch Geiger und sein Co-Regisseur Mohammad Farokhmanesh können nicht sagen, wie viele Kinder in Deutschland „völkische Erziehung“ genießen, ob es Hunderte oder Zehntausende sind. Durchaus benennen lassen sich die Elemente einer solchen Erziehung: Abschottung gegenüber der Umgebung, Widerstand gegen das verhasste „System“, Gehorsam gegenüber Älteren, Achtung für Traditionen, Zusammenhalt in der Familien- und Ideologieblase sowie das Schüren von Ängsten gegenüber allem Fremden.
Es ist ein Doppelleben, hie die Schule, in der man sich nichts anmerken lassen soll, da der familiäre Umkreis, wo Schulstoff als Teufelszeug gebrandmarkt wird und der Lehrer als Feind; der Spagat führt bei vielen Kindern zu psychischen Erkrankungen.
Schokoladen-Challenge
Ein wesentliches Erziehungselement ist Disziplin, Härte gegenüber den eigenen Kindern. Sie werden im Winter dünn angezogen, sie dürfen nicht weinen, wenn sie vom Baum fallen, und dann gibt es noch die Schokoladen-Challenge: Wenn das Kind schlafen geht, legt man eine Schokolade neben sein Kopfkissen – das am nächsten Morgen immer noch daliegen muss.
Es gibt nicht viele Aussteiger aus der rechtsextremen Szene. „Exit“, die Organisation, die Hilfe dabei anbietet, hat von 2000 bis 2015 nach eigenen Angaben 568 Ausstiege begleitet. „Kleine Germanen“ konzentriert sich auf die Geschichte einer Aussteigerin, die unter dem Tarnnamen „Elsa“ erzählt.
Von dem Nazi-Großvater, der sich fürsorglich um sie kümmert (Altnazis haben häufig die Generation ihrer Kinder ausgelassen und erst die Enkel wieder ideologisch beeinflusst), von Lagerfeuern und Nachtmärschen der „heimattreuen Jugend“, von der Heirat mit einem Rechts-Aktivisten – und von den ersten Zweifeln, als der ins Gefängnis wanderte und sie ganz ohne Mann ihren Hofladen am Laufen hielt.
Elsas Geschichte zieht sich über mehrere bundesrepublikanische Jahrzehnte, vom Kleinkind bis ins Erwachsensein. Geiger und Farokhmanesh zeigen nicht, wie in Dokumentationen üblich, die Interviewte, die in die Kamera spricht; dazu war „Elsa“ nicht bereit. Vielmehr inszenierten sie das Germanenleben mit Schauspielern, nahmen diese mit dem Motion-Capture-Verfahren auf und überzeichneten sie dann im Computer.